Die Gretchenfrage – ist eine freie Gesellschaft ohne Aufklärung überhaupt möglich?

“Nun sag’, wie hast du’s mit der Religion?” fragt Margarete in Goethes Faust den Namensgeber des Werks. Und Dr. Heinrich Faust antwortet: “Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott. Ich habe keinen Namen.” Der wissbegiehrige Universalgelehrte, der zu diesem Zeitpunkt bereits einen Pakt mit Mephistopheles (also dem Teufel) eingegangen war, umgeht die Frage mit diesem Satz äußerst clever. Denn während das von Faust umworbene Gretchen fromm und bescheiden daherkommt, treibt es den Wissenschaftler naturgemäß zum Wissen. Und wer würde sich seine Chancen bei der Angebeteten schon verderben wollen, nur weil er ehrlich über Religion diskutiert?

“Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Heiße Magister, heiße Doktor gar
Und ziehe schon an die zehen Jahr
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum-
Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Das will mir schier das Herz verbrennen.
Zwar bin ich gescheiter als all die Laffen,
Doktoren, Magister, Schreiber und Pfaffen;
Mich plagen keine Skrupel noch Zweifel,
Fürchte mich weder vor Hölle noch Teufel-
Dafür ist mir auch alle Freud entrissen,
Bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen,
Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren,
Die Menschen zu bessern und zu bekehren.”

Johann Wolfgang von Goethe, Faust (1808)

Johann Wolfgang von Goethe veröffentlichte “Faust – Der Tragödie erster Teil” im Jahr 1808. Mit seinem Werk vereinte er gleich vier prägende Bewegungen in seinem Werk: die Weimarer Klassik, Sturm und Drang, Romantik und – die Aufklärung! Der Gelehrte Dr. Faust repräsentiert dabei die Philosophie der Aufklärung (Wissen und Beweise statt puren Glaubens) ebenso wie ihre Gefahren (Erkenntnisgewinn um jeden Preis). Die Aufklärung hatte auf die weitere Entwicklung einen massiven Einfluss. Unsere moderne freie Gesellschaft mit diversen Freiheitsrechten wäre ohne sie wohl nicht möglich gewesen. Die unterschiedlichen Auswirkungen sind im Einzelnen:

  1. Aufstieg des Rationalismus und der Wissenschaft: Die Aufklärung betonte die Bedeutung von Vernunft und wissenschaftlicher Erkenntnis. Dies führte zu Fortschritten in den Naturwissenschaften, der Medizin und anderen Disziplinen.

  2. Politische Veränderungen: Die Ideen der Aufklärung trugen zur Entstehung demokratischer und republikanischer Regierungsformen bei. Die Vorstellung von individuellen Rechten, Meinungsfreiheit und Gleichheit vor dem Gesetz begann sich durchzusetzen.

  3. Religiöse Toleranz und Säkularisierung: Die Aufklärung forderte eine kritische Überprüfung religiöser Dogmen und trug zur Entstehung von Toleranz und Pluralismus bei. Es entstand eine stärkere Trennung von Kirche und Staat.

  4. Soziale Veränderungen: Die Aufklärung förderte Ideen wie Menschenrechte, Gleichheit und soziale Gerechtigkeit. Dies trug zur Abschaffung der Sklaverei und zu Reformen in Bildung, Rechtssystem und Arbeitsbedingungen bei.

  5. Kulturelle Entwicklungen: Die Aufklärung beeinflusste Kunst, Literatur und Musik. Es entstanden neue literarische Genres wie der Briefroman und philosophische Werke beeinflussten die Entwicklung von Kunst und Musik.

Insgesamt trug die Aufklärung dazu bei, traditionelle Autoritäten in Frage zu stellen, das Streben nach Wissen und Freiheit zu fördern und den Weg für die modernen demokratischen Gesellschaften zu ebnen. Und auch wenn es derzeit so aussieht, als stünden wir an der Schwelle zu einem post-aufklärerischen Zeitalter, in dem Religionen und die Befindlichkeiten ihrer Anhänger plötzlich eine deutlich stärkere Rolle spielen als noch vor wenigen Jahrzehnten, so existieren doch immer noch die grundlegenden Errungenschaften der Aufklärung. Übrigens bedeutet Religionsfreiheit auch das Recht, frei von Religion zu leben. Das wird häufig vergessen – oder sogar bewusst unterschlagen. Aber das individuelle Recht, kein
Teil eines Glaubens sein zu müssen oder ständig damit konfrontiert zu werden, gibt es nach wie vor. Was es nicht gibt, ist übrigens Blasphemie.

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